Rezension Fresh Widow: Fensterbilder seit Matisse und Duchamp

Hrsgb.: Kunstsammlung NRW, Düsseldorf. Hatje Cantz Ostfildern 2012

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Fenster sind in der Kunst immer wieder Gegenstand großer Maler. Aber das Fenster ist nicht nur ein Bildmotiv, ein Assessoire zu dem Haupt-motiv, sondern selbst eine Metapher:

Rolf Selbmann: „Fenster sind also keineswegs funktionale Glieder im Hausbau, sondern bedeutungsschwangere und intentionsgeladene Schwellenorte an der Schnittstelle von drinnen und draußen.“¹)

In dem fantastischen Band Fresh Widow, Herausgeber Kunstsammlung Nordrhein Wetsfalen, haben die Macher einer Ausstellung mit dem Titel Fresh Widow, die in der Kunstsammlung vom März bis August 2012 stattfand, und die im Cantz-Verlag in einem Bildband erschien, die Fenstermetapher aufgegriffen und verfolgen sie über diverse Beiträge zur Kunstgeschichte.

Fenster haben eine lange Geschichte in der Kunst vorzuweisen und stehen also vor allem als Trennung zwischen einem Innen und einem Außen oder sind zwischen Wirklichkeit und Illusion oder zwischen realer und virtueller Welt angesiedelt. Die Fenstermetapher reicht bis in unsere heutige mediale Welt: Der Fernseher kann als Fenster zur Welt angesehen werden, man könnte fragen in welche Welt, in die reale oder die uns vorgegaukelte mit ihren Manipulationen, ihren Fake News? Und nicht zuletzt der Computer, der seit den 80 er Jahren die von Xerox PARC erfundene Windows-Oberfläche hat, die einen Durchbruch im Bedienkonzept von Computern darstellt.

Die Windows-Oberfläche ist Teil des übergeordneten Konzepts des Schreibtisches. Solche Oberflächen heißen deshalb auch Desk-Top.

Der Stellenwert des Fensters ist unmittelbar einleuchtend: Auf Grund seiner Flächigkeit, seines Rahmens, seiner rasterförmigen Binnen-gliederung sowie seiner Transparenz eignet sich das Fenster für grundsätzliche Interpretationen und Deutungen. An der Schnittstelle zwischen einem Innenraum und einem Außenraum erlaubt das Fenster den Blick von einer Privatsphäre nach draußen – als Bildfenster – und den Blick nach drinnen als Schaufenster. So hat Leonardo da Vinci das Auge als Fenster der Seele bezeichnet und die Gebrüder Grimm das Fenster ähnele einem Auge des Hauses, das Auge einem Fenster des Leibes.

Stefan Rasche untersuchte in seinen Studien zum Fensterbild nach 1945 Bilder und Werkgruppen von fast hundert Künstlern und konstatiert eine ungebrochene Attraktivität des Fenstermotivs bis heute.²)

Thomas Grochowiak gliedert 1976 das Werke einer Ausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen mit Fenstermotiven in 7 Themenkomplexe: u. a. in sozial-kritische, romantische, voyeuristische und ankedotische Bildfindungen.

Das Fenster setzt mit seinem Rahmen einen Ausschnitt aus der Realität; das Foto entspricht in analoger Weise ebenfalls einem Realitätsausschnitt, ist also ebenfalls ein „Fenster“.

Der Titel des Buches Fresh Widow (frische Witwe) muss man erklären. Er geht auf Marcel Duchamps zurück und ist eine spielerische Ver-schiebung von French Window.

Konzeptionell steht das Duchamp Fenster aus dem Jahre 1920 für die Abkehr eines Jahrhunderte lang tradierten Bildkonzeptes nämlich weg vom „Darstellen“ hin zum „Machen“, einem entscheidenden Merkmal der Postmoderne. Mit seinem Pissoir führt er das Ready-Made in die Kunst ein und kann deshalb auch als Wegbereiter der Postmoderne gelten.

Maria Müller-Schareck: „Als in die Wand geschnittene, meist orthogonale Öffnung ist das Fenster Schnittstelle und Kreuzungspunkt zwischen Innen- und Außenraum. … Das Fenster umrahmt den Blick aus der Privatsphäre nach draußen – als Bildfenster – und den Blick der Öffentlichkeit nach drinnen als Schaufenster.“

Die Beiträge im einzelnen:

Maria Müller-Schareck diskutiert an Beispielen verschiedener Künstler das Fenster als Ausgangspunkt, als Schwelle, als Fläche mit Rahmen und Gitter, als Licht und Schatten und als blockierte Blicke. Die besprochenen Beispiele versteht sie als „Vorschlag für eine Sehweise

Der Beitrag von Rolf Selbmann versteht sich unter dem Titel Ausblicke, Einblicke, Durchblicke als eine kleine Geschichte des Fensters bis zur Moderne. Er diskutiert Fensterbilder von Johann Heinrich Tischbein, Caspar David Friedrich, Moritz von Schwind und Peter Janssens Elinga, Künstler der Romantik. Mit Édouard Manet und Salvador Dalí ist er dann in der Moderne angekommen.

Elke Bippus widmet sich den Fenster(-Machern) oder der Frage nach der Konstruktion von Sichtbarkeit, während Erich Franz in seinem Beitrag auf die Fensterbilder von Robert Delaunays eingeht, die er um 1912 begann.

Peter Kropmann widmet sich den Fenstern eines Henri Matisse, ein Thema mit Variationen. Auch bei ihm zeigen die Abbildungen die Vielfalt von Fensterinterpretationen.

Isabelle Matz stellt die Fenster eines Marcel Duchamp zwischen Präzisionsmalerei und Indifferenzschönheit dar. Als einem der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhundert hat er die Auffassung von Kunst grundlegend verändert.

Marcel Duchamp: „Ich nahm die Idee eines Fensters als Ausgangspunkt, so wie ich einen Pinsel oder irgendeine spezifische Ausdrucksform wie Ölmalerei benutzt habe. Mit anderen Worten, ich hätte zwanzig Fenster, jedes mit einer anderen Idee dahinter, realisieren können.

Heinz Liesbrock diskutiert das Sichtbare und das Unsichtbare bei Josef Albers, der als abstrakter Künstler gilt, aber nach eigenem Bekunden seine künstlerische Laufbahn erst mit dem Eintritt in das Bauhaus in Weimar 1920 begann, während er seine früheren Arbeiten vor der Öffentlichkeit gerne verbarg.

Heinz Liesbrock: „Immer versucht der Künstler, die Komplexität der Wirklichkeit, wie sie sich unserer Wahrnehmung zeigt, darzustellen. Dabei ist die visuelle Anschauung für ihn nie ein ausschließlich physiologischer Akt. Das Sehen erfüllt seine Aufgabe erst, wenn es in eine geistige Dimension führt und im Bewusstsein des Betrachters seine Wirkung entfaltet und seine Erfahrungsdimension eröffnet.”

René Magritte: „Dieses Fenster! Wie es mich langweilt! So – so rechtwinklig! Man könnte doch denken, dass der Maurer, als er zum letzten kam, geneigt gewesen sein könnte, es anders zu machen – schräg zum Beispiel. Eines Tages werd´ ich es wohl selber machen müssen.”

Christoph Grunenberg widmet sich in seinem Beitrag den Fensterbildern eines René Magritte, dem großen Surrealisten.

Grunenberg dazu: „Magrittes Kunst lässt sich als kritische Auseinandersetzung mit dem Wesen der Darstellung in der Kunst beschreiben. Während seiner gesamten Schaffenszeit blieb der Künstler der Malerei als kreativem Ausdrucksmittel treu, während er gleichzeitig ihren Sinn und Zweck stets hinterfragte. Dabei diente sie ihm als Mittel, um die Vorstellung von Malerei als treues Abbild der sichtbaren Welt ins Wanken zu bringen und damit auch das Konzept von einer stabilen und geschlossenen Wirklichkeit.”

In ihrem zweiten Beitrag geht Maria Müller-Scharek auf die Fenster-Bilder Ellsworth Kellys, eines Amerikaners, der 1948 nach Paris kam, um – wie er sich ausdrückte – die „kathartische Wirkung” der Stadt aufzunehmen, ein. Seine abstrakten Arbeiten zeichnen sich durch eine eigenwillige Bildsprache aus.

 

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Sollen Fenster in der Regel den Durchblick ermöglichen, sind Christos Arbeiten bekannt als Verhüllungen. So nimmt es nicht Wunder, dass seine „Schau-Fenster” verhüllt sind. Melanie Vietmeier widmet sich den Arbeiten Christos.

Unter dem Titel Right After beschäftigt sich Lisa Marel Schmidt mit Eva Hesses späte Zeichnungen. Trotz ihres frühen Todes mit 34 Jahren war ihr ein außerordentlicher Erfolg beschieden. Ihre besondere Vorliebe galt der Serialität. Die Reduktion auf geometrische Grundstrukturen zeigen Bezüge zum Minimalismus,

Robert Motherwell, der u.a. mit Jackson Pollock und Mark Rothko an der New York School studierte, kam dabei mit französischen Surrealisten zusammen, die ihn nachhaltig prägten. Robert Motherwell geht in seiner Abstraktion der Fenster-Metapher noch einen Schritt weiter. Minimalistischer lässt sich ein Fenster nicht mehr darstellen. Besonders hervorzuheben ist seine Werkgruppe Open. John Yau führt in das Werk von Motherwell ein.

Für Brice Marden ist Farbe ein Mittel auf dem Weg zum Licht. Ohne Licht gäbe es kein sichtbares Bild. Christian Müller beschäftigt sich mit dem Titel Malen und Zeichnen im Raum den Entwürfen Brice Martens für die Chorscheiben des Baslers Münster. Dass bei der Diskussion der Fenster-Metapher die Kirchenfenster nicht weit sind, ist naheliegend.

Gerhard Richter: „Die Türen, Vorhänge, Oberflächenbilder, Scheiben usw. sind vielleicht Gleichnisse einer Verzweiflung über das Dilemma, dass zwar unser Sehen uns die Dinge erkennen lässt, dass es aber gleichzeitig die Erkenntnis der Wirklichkeit begrenzt und partiell unmöglich macht.“

Stefan Gronert beschäftigt sich mit der Verwandlung von Bild und Objekt in Gerhard Richters Fenstern. Das erste was einem einfällt, wenn man Fenster und Richter hört ist das Fenster im Südquerhaus des Kölner Doms, das 2007 eingeweiht wurde.

Stefan Gronert: „Vergleichsweise unbekannt ist hingegen das von Richter 1989 für ein von Walter Gropius 1922 in Berlin-Zehelndorf entworfenes Privathaus gestaltete Fenster. Für beide Arbeiten gilt, dass Richter dabei auf die 1966 erstmals eingeführten Farbtafeln zurückgreift, bei denen er nicht nur das Prinzip des Ready-Made, sondern vor allem das Prinzip des Zufalls anwendet.“

Melanie Vietmeier beschäftigt sich mit Isa Genzkens Fensterskulpturen: „Das architektonische Element eines Fensters ist bei Genzken stets freigestellt, vom Kontext eines realen Gebäudes losgelöst, verweist aber als Fragment noch auf solche Zusammen-hänge und Strukturen.“ Wegweisend bleibt ihr Motto, das sie 1992 für ihre Wanderausstellung wählte: „Jeder braucht mindestens ein Fenster”, weil sie stets Architektur in Zusammenhang mit gesell-schaftlichen und sozialen Lebensräumen sieht.

Günther Förg ist ein weiterer Künstler, der in dem Band zu Wort kommt.

Günther Förg: „Das Fenster ist in meiner Fotografie immer ein Thema. Wenn ich beispielsweise die Fenster im Haus Lange oder in der Villa Wittgenstein fotografiert habe und sie einander gegenüberstelle, werden sie zu abstrakten Mustern.”

Rune Gade betrachtet die Fensterbilder von Förg unter dem Titel Dunkelheit. Die Dunkelheit steht in der westlichen Kultur für das Finstere und Falsche. Da in der Dunkelheit nichts zu sehen ist, schafft sie Platz für Vorstellungen und Imagination.

Rune Gade: „Förg holt uns in die dunkle Kammer und lässt uns die Kraft der Lichtflut spüren, wenn sie sich ganz zurücknehmend, pianissimo, als in weiter Ferne liegende Möglichkeit andeutet.”

Hans Rudolf Reust sucht Ereignisse im Raum in den bildhaften Fenster von Toba Khedooris. Seit 1988 verwendet Khedooris Papierbahnen als Bildträger, die horizontal oder vertikal ausgerichtet, an die Wand geheftet werden.  Die Großformate sind oft mit verschwindend kleinen Motiven bemalt und mit Wachs überzogen.

Im Reigen großer Künstler darf Jeff Wall nicht fehlen. Morning Cleaning oder A view from an apartment haben bereits Kultcharakter erreicht. Doris Krystof widmet sich Walls Schau-Fenstern und führt zum ersteren aus: „Mit der ins Zweidimsionale übertragenen Architektur des berühmten Glaspavillons von Mies van der Rohe formuliert Jeff Wall eine pointierte Sicht auf die Utopien der Moderne und deren Ablösungen und Verflüssigungen in der Postmoderne.”

Ina Blom widmet sich den Fenstern von Olafur Eliasson mit dem Titel Das Ende des Fensters.

Ina Blom: „Wenn Olafur Eliassons zahlreiche Fensterprojekte überhaupt eines gemeinsam haben, dann ist es die Doppelbödigkeit der neuen medialen «Fenster».”

Sabine Hornig: „Bei den Fotoarbeiten der Schaufenster bringt die Spiegelung die Ebene hinter dem Betrachter nach vorne und verstellt den Fluchtpunkt im Bild. Diese visuelle Barrikade ist wie ein virtueller Vorhang – sie ähnelt dem, was einem beim Prozess des Erinnerns im Weg sein kann oder aber etwas wieder eröffnet: Nämlich dann, wenn der Vorhang durchlässig wird”.

Zum Abschluss des spannenden Bilder-Reigens mit der Überschrift Fenster widmet sich Caroline Käding der Fensterscheibe als Bildfläche in der Fotografie von Sabine Hornig.

Wolfgang Ahrens, im September 2017

  1. Selbmann, R.: Ausblicke, Einblicke, Durchblicke. Eine kleine Geschichte des Fensters bis zur Moderne. In: Kunstsammlung NRW (Hrsgb.): Fresh Widow. Fenster-Bilder seit Matisse und Duchamp. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2012
  2. Rasche, S.: Das Bild an der Schwelle. Motivische Studien zum Fenster in der Kunst nach 1945. In: Theorie der Gegenwartskunst Band 15. Uni. Diss. Münster 2001. Lit. Verlag Münster 2003