Was versteht man unter künstlerischer/abstrakter Fotografie? (Stand 24.2.2018)

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Die Abstraktion, so scheint es, entfernt die Fotografie vom „Fotografischen“. Daher fallen die Reaktionen fast durchweg polarisierend aus, wenn es um abstrakte Fotografie geht. Für die einen ist sie die eigentliche künstlerische Ausdrucksform der Fotografie, für die anderen schlicht ein Verrat ihrer medienspezifischen Natur…. Je intensiver die Fotografie Verfahren der Abstraktion aufnimmt und entwickelt, umso mehr wird sie zur Kunst: Die Abstraktion öffnet der Fotografie das Tor zur Ästhetik.

Kathrin Schönegg, Berd Stiegler

Joseph Beuys sagte einmal alles ist Kunst und jeder ist ein Künstler. Einleitend möchte ich auf die Frage was Kunst im Allgemeinen und Fotokunst im Speziellen sein könnte eingehen. Wenn Kunst das ist, was gefällt, ist dies eine äußerst unbefriedigende Antwort. Wenn viele Fotokünstler die Nase rümpfen, wenn Photoshop im Spiel ist, dann befinden sie wohl das Schaffen eines Andreas Gursky nicht als Kunst.

Dr. Enno Kaufhold /5/* führt in seinem Beitrag zu den Ausdrucksmitteln der Fotografie aus: „Da die Bildproduktion der vorangegangenen Jahrhunderte axiomatisch auf Wirkliches, auf Realien, auf Tatsächliches orientiert war, enthielt jedes Abbild implizit eine Methode, wie diese Außenwelt ins Bild übertragen worden war. An der Zentralperspektive, die seit der Renaissance die Übertragung der dreidimensionalen Außenwelt in zweidimensionale Abbildungen leitete, hat sich das am überzeugendsten gezeigt. Insofern hatte Wirklichkeitsaneignung mittels Bilder immer etwas mit dem Wissen über die Physiologie des Sehens zu tun. Die Malerei der französischen Impressionisten setzte in malerischer Form um, was zur gleichen Zeit in der Sehphysiologie an neuen Wahrnehmungstheorien entwickelt worden war.[…]

Im Unterschied zur impressionistischen Malerei suchten die Verfechter der Kunstfotografie bewusst Distanz zur objektiven Wiedergabe. Sie wollten nicht mehr länger das Faktische vor ihren Augen zeigen, wie man das von den Fotografen bislang gewohnt war, sondern innere Werte zur Anschauung bringen, eben Gefühle und Empfindungen.

Andreas Gursky, der durch seine großformatige Fotografien berühmt wurde, sagte einmal: „Das Großfoto sollte dem Betrachter bei aller realistischen Präsenz erlauben, über das konkrete Abbild hinwegzusehen und das Bild in ein rein abstrakt-formalistisches Gebilde aufzulösen.“

Betrachtet man die Entwicklung der einzelnen Bildmedien ungeachtet der individuellen Ausformungen durch ihre jeweiligen Anwender, die Maler, Grafiker, Fotografen und Filmer, so lassen verschiedene Korrespondenzen aufmerken. Nachdem Malerei und Fotografie während der ersten Jahrzehnte nach Erfindung der Fotografie einen eher verhaltenen Dialog miteinander geführt hatten, kam es seit Ende der 1880er Jahre zu grundsätzlichen Klärungen.“

Interessant nun eine Anmerkung von Hans Spörl, der in München an der 1900 gegründeten „Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie“ unterrichtete: Von diesem Gesichtspunkt aus, hielt er es für völlig gleichgültig, ob ein Kunstwerk durch Malerei oder Fotografie entstehe. Die Frage der Mittel wurde sogar ganz abgetan.

Eine interessante Anmerkung im Zeichen von Photoshop und Co!

Was haben Kunst und Fotografie also heute gemeinsam?

Dr. Gottfried Jäger, emeritierter Professor der FH Bielefeld, geht in seinem Buch zur Fotoästhetik /8/* der Frage nach, was das Künstlerische an der Fotografie ist: „In der gegenwärtigen fotoästhetischen Diskussion um die Frage nach dem „Spezifischen“ des Mediums Fotografie stehen zwei Grundpositionen gegenüber (übrigens nicht erst seit heute, der Konflikt ist so alt wie die Fotografie selbst). Die eine Position weist dem Foto allein reproduktive Funktion zu, die andere geht darüber hinaus und misst ihm auch eine strukturerzeugende Bedeutung bei.“

Jäger sieht vier Arten von fotografischen Bildern, das sind die Abbilder, die Sinnbilder, die Strukturbilder und die Konzeptbilder.

1) Abbilder bilden die Realität ab. Sie werden subsumiert als Sachfotografie, Dokumentarfotografie, auch wissenschaftliche, naturgetreue, gegenständliche Fotografie genannt. Abbilder sind vor allem der Wahrheit und Treue verpflichtet nicht der Kunst. Der Fotograf nimmt sich in dieser Art der Fotografie weitgehend zurück, er verhält sich neutral, auswählend, im Mittelpunkt steht das Objekt. Nichtsdestoweniger ist seine „Handschrift“ erkennbar. Der Code of Ethics von Associated Press untersagt dem Fotografen jegliche Manipulation an seinen Bildern.

2) „Ist das Ziel die Darstellung subjektiver und vorrangig vom Fotografen her bestimmter Vorstellungen sowie auch die Beeinflussung bestehender Meinungen und Haltungen durch das Bild, so spricht man von inszenierender, beeindruckender, suggestiver, parteilicher, teilnehmender, kritischer, engagierter oder auch eingreifender Fotografie.

*) Die Zahlen beziehen sich auf die Literatur in der Literaturliste.

Wir bezeichnen das Gebiet zusammenfassend als darstellende Fotografie, seine Ergebnisse als fotografische Sinnbilder oder auch Symbolbilder.“

3) Eine dritte Art von Bildern sieht er in den sog. Strukturbildern: „In Fällen, in denen es nun vorrangig um die Schaffung neuer Bildstrukturen und um die Veranschaulichung abstrakter Ideen geht, spricht man u.a. von einer gestaltenden, schöpferischen, konstruierenden, experimentierenden, ungegenständlichen, abstrakten, absoluten oder auch konkreten Fotografie etwa für künstlerische und nichtkonventionelle Zwecke. Wir sprechen hier vom Gebiet der bildgebenden Fotografie, ihre Ergebnisse nennen wir fotografische Strukturbilder.[…]

Diese Fotografie ist eine Erzeugungsfotografie, die sich von der bisherigen Bedeutung des zentralen fotografischen Begriffs der Abbildungstreue löst, ihn neu interpretiert und erweitert. Sie bildet nicht mehr nur Gegenstände ab, wie die konventionelle Fotografie, sondern sie macht auch Abstrakta zu ihrem Gegenstand: Gedankenbilder, Theoreme, Modelle, Vorstellungen. Sie vermittelt nicht nur einen „äußeren“ Standpunkt, sondern auch einen „inneren“ Standpunkt: ein Innenbild des Systems Mensch.“

4) „Die offensive Auseinandersetzung mit Widersprüchen, mit Grenzen und Möglichkeiten der Medien und ihrer Apparate sowie ihrer Bedeutung für Kunst und Gesellschaft, fand in den Projekten der Concept Art um 1970 ihren engagierten Ausdruck. Fotografische Beiträge dazu wurden durch neu entstehende Begriffe wie Konzeptfotografie, Bildanalytische Fotografie, Demonstrative Fotografie oder Experimentelle Medienreflexion gekennzeichnet. Das Foto war dabei sowohl zentrales Mittel als auch zentraler Gegenstand einer radikalen, ebenso konstruktiven wie kritischen Inspektion seiner Inhalte und Formen, Konzeptbilder eben.“

Schließlich kommt er zu dem Schluss: „Fotografie erstattet nicht länger Bericht, nun entwickelt sie Ideale und Ideen aus sich selbst heraus. Sie ist nicht nur eine mimetische, vielmehr auch eine poetische Kunst, nicht nur zu gebrauchen, sondern zu genießen.“

Professor Peter Fischer-Piel sieht nun aus diesen Phänomenen eine globale Ästhetik entstehen, die ihre Ursache in der generellen Globalisierung und in Photoshop hat. In seiner Arbeit: Die Rückkehr des Ästhetischen in die Fotografie – Reflexionen zum neuen Bild der Welt in der medialen Bilderwelt geht er darauf ein:

„Zu beobachten ist eine zunehmende Angleichung der bildsprachlichen Mittel, die vor allem formaler Natur ist und im Wesentlichen auf den EDV-basierten Funktionen der digitalen Bildbearbeitung beruht. Der Trend geht zum malerisch gestalteten Tafelbild, und durch die universelle Verwendung eines einzigen Programms auf der Produzentenseite – nämlich PHOTOSHOP – ist eine globale Bildästhetik entstanden, die nicht nur in allen Genres der Fotografie, sondern auch in allen Gesellschaften und Kulturen Einzug gehalten hat. Sozusagen eine Globalisierung der Bildästhetik, die keine Nation und Kultur, keine ästhetische Differenz mehr kennt. Das ist die Umkehrung der ästhetischen Konzepte der 70er Jahre. Die Bildsprache der Fotografie wird nun weitgehend auf das „Schöne und Anmutige“ reduziert; konzeptuelle Ansätze, die Fragen nach Wahrnehmung und Bedeutung des Fotobildes spielen kaum noch eine Rolle: sinnliche Anschauung und Erkenntnis auf der Basis einer einzigen Bildsprache!

Dieses Phänomen korreliert eng mit allen anderen Globalisierungstendenzen, sei es beispielsweise Mode, Fahrzeugdesign oder Architektur. Ob sich die Laufstege und Modegeschäfte in Paris, Mailand oder New York befinden, die Autos in Detroit, Tokio oder Stuttgart entworfen werden, die Büropaläste in Dubai, Schanghai oder London stehen, ist fast einerlei. Die Welt ist paradoxerweise nicht größer, sondern viel kleiner geworden, und mit ihr die Spielräume und Eigenheiten, die jedes Medium einst besaß.“

Gottfried Jäger fasst also die Abstrakte Fotografie wie folgt zusammen: Bilder sind

  • als Abstraktionen des Sichtbaren,
  • als Visualisierungen des Nichtsichtbaren und
  • als Konkretisierungen reiner Sichtbarkeit zu sehen.

aus: Holzer, J. (Hrsgb.): Fotogeschichte. Jonas Verlag, Heft 133, 2014, Jg. 34

Wolfgang Ahrens, im September 2015

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