Rezension: Mit anderen Augen. Das Porträt in der zeitgenössischen Fotografie

 

Hrsg.: Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur und Kunstmuseum Köln. Snoeck Verlagsgesellschaft Köln, 2016

 

Einleitung

Der Bildband Mit anderen Augen. Das Porträt in der zeitgenössischen Fotografie ist das Ergebnis einer Gemeinschaftsausstellung der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, vom 26.2. – 29.5.2016, und dem Kunstmuseum Bonn vom 25.2. – 8.5.2016. Eine weitere Ausstellungsstation war die Kunsthalle Nürnberg und Kunsthaus im KunstKulturQuartier vom 13.10.2016 – 15.1.2017.

Der fulminante Bildband zeigt zeitgenössische Porträts von 50 Fotokünstlern. Jeder Künstler wird mit den gleichen Fragen zu seinem Werk befragt, was anschaulich die unterschiedlichen Positionen verdeutlicht.

Zum Verständnis zeitgenössischer Porträtfotografie tragen ganz wesentlich die Abhandlungen verschiedener Autoren bei.  Nach einem Vorwort von Stephan Berg, Intendant des Kunstmuseums Bonn, Gabriele Conrath-Scholl und Ellen Seifermann, beschäftigen sich Klaus Honnef mit dem emanzipierten Porträt, Gabrielle Conrath-Scholl, Leiterin der Photographischen Sammlung, mit dem Reiz des Dokumentarischen – Das Porträt als verlässlich unverlässlicher Maßstab, Claudia Schubert mit internationalen Positionen von Albanien bis Afghanistan, von Norwegen bis New York,  Stefan Gronert mit der Konzeptualisierung des fotografischen Porträts, und Barbara Hofmann-Johnson, Leiterin des Museums für Photographie Braunschweig e.V., mit dem Porträt im öffentlichen Raum.

Die Porträtfotografie hat schon seit Beginn der Fotografie im 19. Jahrhundert die Fotografie dominiert. Der Grund ist ganz einfach: Das aufstrebende Bürgertum wollte sich wie der Adel und der Klerus porträtieren lassen. Die Kapazitäten der Maler waren jedoch begrenzt. Ausweg versprach die Fotografie.

So hat  Gaspard-Félix Tournachon genannt Nadar (1820 – 1910) eines der ersten Fotostudios in Paris eröffnet. Von ihm wurden bekannte und berühmte Persönlichkeiten der Zeit porträtiert.

Die Bedeutung des Porträts in der Fotografie wird bereits im Vorwort von Stephan Berg, Gabriele Conrath-Scholl und Ellen Seifermann deutlich: „Das Porträt mit seinen Möglichkeiten, Momente der Individualität und Identität hervozuheben sowie Aspekte gesellschaftlicher und kultureller Zusammenhänge oder auch sozialer Bindungen zu thematisieren, gehört für Fotografen und Künstler nach wie vor zu den zentralen Herausforderungen ihrer praktischen und theoretischen Arbeit.

Das emanzipierte Porträt – Klaus Honnef

Was ist ein emanzipiertes Porträt, mag man fragen? Von was emanzipiert sich ein emanzipiertes Porträt? Und was ist ein nicht-emanzipiertes Porträt?

Man merkt schon an den Fragen, dass uns Klaus Honnef harte Kost zumutet. Er geht auch sofort in medias res und beginnt mit dem „Selfie“, einem zweifellos weit verbreiteten Selbstporträt. Und gerade in dem Selfie sieht er die Emanzipation des individuellen Menschen im Bild.

Klau Honnef: „Mit der Kamerafotografie begann der Einzug aller Menschen unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht, Alter und ethnischer Zugehörigkeit, ins Reich der (Ab-)Bilder. Mit der Smartphone-Fotografie können alle Menschen ihr Bildnis endlich nach eigenem Gusto ohne technische Fertigkeiten und nennenswerten marteriellen Einsatz gestalten. Aus kunstkritischer Perspektive wird dieser soziokulturelle Fortschritt meist als ästhetischer Verfall gesehen und beschrieben.”

Trotzdem ist das Selfie inzwischen in der Kunst angekommen. So nutzt Richard Prince, ein außergewöhnlicher Appropriation Art-Künstler, Selfies aus dem Netzwerk Instagram mit angehängten Chat-Passagen und verkauft sie für $ 90.000 pro Exemplar.

Jenseits der Selfie-Fotografie sieht Klaus Honnef markante Veränderungen in der zeitgenössischen Fotografie: Anstelle der selbstbezogenen Individuen, den Industriellen, Bankiers, Kaufleuten und Gelehrten, treten soziale Repräsentationsmodelle, also Größen aus dem Showbusiness, Film- und Fernsehstars oder „Models“ vor die Kameras und im Gefolge die Politiker, Wissenschaftler und Sportler.

Die Motive, die Menschen, wandeln sich von innengeleiteten zu außengeleiteten Individuen. Das Verhalten eines außengeleiteten Menschen bestehe darin, dass es durch die Zeitgenossen gesteuert werde und zwar nicht nur von denen, die er kennt, sondern auch über die sozialen Medien in Form von Likes und Followers. Und wer in diesen Medien gar zum Influencer aufsteigt, beeinflusst seine Zeitgenossen in einer besonders einträglichen Art.

In der Porträtfotografie nimmt die Modefotografie eine besondere Rolle ein. Fotografische Autoren wie Peter Lindbergh, Mario Testino, Jürgen Teller u.a. sind nicht nur herausragende Modefotografen, sondern zählen zu den brillantesten Porträtisten.

Peter Lindbergh fällt insofern aus dem Rahmen, als er in besonders intensiver Kooperation mit den Models arbeitet. Das Konzept der Partizipation seiner Models verschärft Lindbergh mit Video-Porträts von zum Tode verurteilten Gefangenen kurz vor ihrer Hinrichtung.

In einer Gesellschaft außengeleiteter Menschen findet ein Eindringen in das Innenleben des Porträtierten nicht statt. Thomas Ruffs überdimensionale, antipsychologische Frontalporträts junger Menschen mit völlig ausdrucksloser Physiognomie in diffuser, gleichmäßiger Beleuchtung belegen diesen Wechsel in der Porträtfotografie, so Klaus Honnef.

Übrigens ist dieser Typus der Porträtfotografie nicht neu. Auch August Sander hat im Grunde keine individuellen Porträts geschaffen, sondern mit seinen Menschen des 20. Jahrhunderts Typenporträts. Bereits hier erkennt man eine Verschiebung von der psychologischen zur soziologischen Perspektive. Mit dieser Verschiebung verliert aber auch das Gesicht als Objekt des künstlerischen Interesses seine herausragende Stellung zugunsten des Ganzkörperporträts. Die gesellschaftliche Prägung der Fotografierten ist am Gesicht auch deutlich schwerer auszumachen als im Ganzkörperporträt.

Der Reiz des Dokumentarischen – Das Porträt als verlässlich unverlässlicher Maßstab – Gabriele Conrath-Scholl

Als Leiterin der Photografischen Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, ist ihr das Erbe August Sanders natürlich ein besonderes Anliegen.

August Sander (1876 – 1964) nimmt mit seinen Arbeiten auch eine herausragende Stellung unter den Fotografen ein. Unter dem Titel „Menschen des 20. Jahrhunderts” hinterließ er rund 1.800 Negative aus Porträtaufträgen und rund 2.400 Negative, Porträts, die hauptsächlich im Westerwald entstanden.

Alle seine Arbeiten sind nicht einfach so entstanden, sondern folgen einem Konzept, er nannte es Mappenwerk bzw. Kulturwerk, das er ab 1920 entwickelte und über Jahre verfolgte und vervollständigte. Es ist letztlich eine langfristig angelegte empirische Studie das Antlitz der Zeit mittels einzelner Porträts zu dokumentieren. Wie andere Künstler seiner Zeit auch hob Sander jene Merkmale einer Person hervor, die diese als Typus ihrer Zeit kennzeichnen. Es entstand ein Mappenwerk von sieben Gruppen, gegliedert in 45 Bildmappen.

Die Gruppen hatten die Titel: Der Bauer, der Handwerker, die Frau, die Stände, die Künstler, die Großstadt und schließlich die letzten Menschen, die mit allem Respekt den Alten, den Kranken und am Rand der Gesellschaft lebenden Menschen und verstorbenen gewidmet war.

Gabriele Conrath-Scholl: „Damit hat Sander die Porträtfotografie aus den Fängen eingefahrener Atelierarbeit befreit, ihr zu größerer Lebensnähe verholfen und für das Medium einen weitreichend konzeptuell begründeten, künstlerischen Ansatz gefunden.”

In der Ausstellung geht es wohlgemerkt nicht um August Sander. Die Aufnahme in die Ausstellung begründet Conrath-Scholl mit der Wertschätzung von Sanders Werk und in wie weit die Werke im Dialog mit dem Werk von Sander im Dialog stehen, eine Begründung, die man nach vollziehen kann. Und so finden sich dann die Künstler Diane Arbus, Rosalind Solomon, Gabriele und Helmut Nothhelfer, Albrecht Tübke, Francesco Neri, Judith Joy Ross, Oliver Sieber, Jim Dine und nicht zuletzt Thomas Ruff.

Von Albanien bis Afghanistan, von Norwegen bis New York – Internationale fotografische Positionen im Dialog – Claudia Schubert

Die Fotografie ist eigentlich schon von Anfang an international ausgerichtet gewesen. Wenn der französische Staat den Patentschutz auf die fotografischen Erfindungen aufhebt, dann sieht er die Universalität der Fotografie und bekundet damit, dass sich alle Menschen ihr bedienen sollten.

Es ist klar, dass Menschen aus anderen Kulturkreisen, mit ganz unterschiedlichen Erfahrungshintergründen auch sehr differenziert ans Werk gehen, eben mit anderen Augen sehen.

Claudia Schubert stellt als einen der ersten den Porträtfotografen, den Südafrikaner Pieter Hugovor, der mit seiner Serie Permanent Error auf der weltweit größten Müllkippe für Elektroschrott in Accra, der Hauptstadt Ghanas, unterwegs ist.

Kaum ein Fotograf dokumentiert so konsequent und eindringlich die Folgen des Kolonialismus und Kapitalismus wie der Hugo. In seinen Bilderserien widmet er sich den Rändern der Weltgesellschaft. Er blickt auf diejenigen, die im Globalisierungsmüll hausen, die sich in schlimmster Armut nach westlichem Wohlstand sehnen, die längst zerschellten Träumen nachjagen.

Nicht minder eindringlich sind die Bilder des englischen Fotografen Mark Neville, der als War Artist die 16. Air Assault Brigade der British Army drei Monate begleitete und in kriegerischen, lebensbedrohlichen Situationen seine persönliche  Grenzerfahrung erlebte.

Nach zweijähriger Recherche hat die norwegische Fotografin Mette Tronvoll 2014 ihre Serie Evalbard (norg. für Spitzbergen) ihre 20-teilige Serie vorgelegt. Gezeigt werden Wissenschaftler, Geologen, oder Meteorologen und natürlich imposante Landschaften.

Die gebürtige Bulgarin Pepa Hristova, die seit 1997 in Deutschland lebt, reiste 2008 und 2010 in den albanischen Teil des Prokletije-Gebirges, um sich dort dem in Europa einzigartigen kulturellen Phänomen der Burrneshas oder Sworn Virgins zu widmen. Damit werden Frauen bezeichnet, die, wenn Vater oder Bruder als Oberhaupt der Familie nicht mehr zur Verfügung stehen – die im Kanun verankerte Blutrache spielt hier etwa eine Rolle –, deren Aufgaben übernehmen. Um anerkannt zu werden, müssen sie Jungfräulichkeit schwören, auf Partnerschaft und eigene Familiengründung verzichten. Trotz aller persönlichen Konsequenzen entscheiden sich gelegentlich Frauen aus freien Stücken, also ohne familiäre Gründe, für das Leben einer Burrnesha, lässt die männliche Rolle in der Gesellschaft im Vergleich zur weiblichen doch wesentlich mehr Freiheiten zu.

Der Japaner Hiroh Kikai porträtiert seit den 1980er Jahren Menschen auf Tokios Straßen. Er fotografiert Einzelpersonen, selten Paare, nie Gruppen. Die monochromen Bilder lenken die Konzentration ganz auf die jeweilige Persönlichkeit und verweisen auf ihre Lebensumstände.

In Anbindung an August Sanders Gesellschaftsporträt nennt Joerg Lipskoch sein fotografisches Projekt Menschen des 21. Jahrhunderts. Zur Klassifikation seiner Aufnahmen nutzt er den gleichen Begriff wie Sander nämlich den Begriff Mappen: Familie und Beziehungen, Schule und Ausbildung, Arbeitswelt, Verkehr und Mobilität, Kunst und Kultur, Staat und Gesellschaft, Medien und Kommunikation, Freizeit und Erholung Sport und Letzte Dinge. Gegenüber dem Sanderschen Werk sind heute viele Berufe nicht mehr durch ihre Arbeitskleidung identifizierbar. So leistet letztlich nur noch die Unterschrift unter den Bildern den Verweis auf einen Beruf.

Wolfgang  Ahrens, im April 2018 – wird fortgesetzt