blank

Anti-Theatralität in der Kunst und zeitgenössischen Fotografie

 

Quelle: Michael Fried: Warum Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor. Schirmer/Mosel 2014

Einleitung

Anti-Theatralität ist ein Begriff aus der Kunst, der bereits im 18. Jahrhundert als Stilmittel in die Porträtmalerei eingeführt wurde mit dem Ziel die Theatralität in der Bildenden Kunst zu vermeiden. Siehe z. B. Joseph Marie Vien: Sweet Melancholy 1756.

Die zeitgenössischen Fotografen wie Jeff Wall, Andreas Gursky, Thomas Ruff oder Thomas Struth setzen diesen Begriff unterschiedlich um, z.B. indem sie die Versunkenheit in der alltäglichen Arbeit visualisieren (Jeff Wall) oder Personen aus sehr großer Entfernung fotografieren (Andreas Gursky).

Jeff Wall: „Michael Fried stellt bei Malern wie Jean-Paptiste-Simeón Chardin (1733 – 1738) einen „Modus des Vertieftseins“ fest, bei dem die Figuren in ihre eigene Welt und ihre Beschäftigungen versunken sind und keine Notiz nehmen von der Komposition des Bildes und der Anwesenheit eines Betrachters. Offensichtlich war der „theatralische Modus“ genau das Gegenteil. In „Bildern der Versunkenheit“ betrachten wir Figuren, die ihre Welt nicht aufzuführen scheinen, sondern lediglich in ihr sind. Beide Methoden entstammen natürlich dem Theater, der darstellenden Kunst.“

In einer Home-Page, die sich mit Fotografie beschäftigt, müsste man sich eigentlich nicht über Bildkonzepte des 18. Jahrhunderts auslassen, wenn nicht einige der größten zeitgenössischen Fotografen Konzepte wie z. B. Versunkenheit und damit die Anti-Theatralität in ihrer Fotografie aufgreifen, allen voran Jeff Wall.

Versunkenheit bei Jeff Wall

Wall hat mit seinen bekanntesten Werken wie Adrian Walker, A View from an Apartment oder Morning Cleaning die Versunkenheit zum Thema gemacht und in einem enormen Aufwand Menschen ins Bild gesetzt, die in einer alltäglichen Arbeit „versunken“ sind.

Allein an dem Bild A View from an Apartment hat er über 2 Jahre gearbeitet. Zunächst suchte er lange nach einem Apartment mit Blick auf den Hafen von Vancouver. Als er das gefunden hatte, heuerte er eine Studentin an, die einfach alltägliche Arbeiten erledigen sollte. Als er sie gefunden hatte, sprach er lange mit ihr und erklärte ihr sein Projekt. Er gab ihr Geld, damit sie die Wohnung nach ihrem Geschmack einrichten konnte. Zudem bat Wall sie, sich möglichst häufig in der Wohnung aufzuhalten, damit sie sich dort zu Hause fühlte. Nach weiteren Gesprächen einigten sie sich auf den Besuch einer weiteren Freundin. Dann musste beschlossen werden, was die beiden auf dem Bild tun sollten.

Schließlich einigte man sich auf ein Szenario und Wall konnte beginnen, die Aufnahmen zu machen. Eine besondere Schwierigkeit bestand in der Beleuchtungssituation von Drinnen und Draußen. Den technischen Widerspruch löste Wall, indem er beide Bilder getrennt aufnahm und die Bilder am Computer zusammensetzte.

Ohne Zweifel kann man an dem fertigen Bild erkennen, dass die beiden Frauen in ihre Tätigkeit „versunken“ sind, also den Fotografen gar nicht mehr wahrnehmen. Das Bild ist insofern anti-theatralisch, da sich die Figuren weder dem Fotografen noch dem Rezipienten in irgendeiner Form „aufdrängen“. Sie gehen einfach ihrer recht simplen Alltagstätigkeit nach.

Versunkenheit bei Thomas Struth

Seit Ende der 1980er Jahr überrascht Thomas Struth mit seinen Gruppenfotografien die Fachwelt. Ob es die Museumsbilder oder seine Familenporträts sind, immer wieder wirft er die Frage zu der inhärenten Theatralität des Genres betreffend auf.

So schreibt Michael Fried: „Das Porträt als Genre kann nur sehr bedingt der Forderung nachkommen, ein Gemälde müsse die Gegenwart des Betrachters negieren oder neutralisieren.“ Die Maler versuchten – wie bereits ausgeführt – das abgebildete Modell in Gedanken oder in eine Beschäftigung vertieft darzustellen, das was wir Versunkenheit nennen.

In den Familienporträts Struths wird die Schwierigkeit besonders deutlich. Struth zeigt die Familien stets frontal. Er legt Wert darauf, die Familien in ihrem häuslichen Umfeld abzulichten. Alle schauen sehr ernst in die Kamera. Die Anordnung der Gruppenmitglieder untereinander überlässt er den Familienmitgliedern. Er spekuliert ganz bewusst darauf, dass sich die Familienmitglieder bewusst sind, dass sie fotografiert werden und bewusst ihre selbst zugewiesene Rolle einnehmen und damit das Kapillarsystem des sozialen Klein-Organismus verkörpern.

Eine weitere nicht minder bedeutende Serie verkörpern die Museumsbilder Struths. Sie haben das Verhältnis von Museumsbesuchern zu den Kunstwerken zum Thema. „Die Museen waren fast immer brechend voll“, sagt Struth, „und das veranlasste mich, mir die Frage zu stellen, was die Menschen, wenn sie vor diesen historischen Gemälden stehen, eigentlich suchen. Für mich ist das Museum ein Ort, der mir erlaubt, meine Instrumente, meine Wahrnehmung zu schärfen. Welcher Nutzen lässt sich aus Bildern der Vergangenheit ziehen, inwieweit können sie zu interessanten oder produktiven Ideen für die Zukunft anregen?“

Was zeigen diese Fotografien?

Zweifellos ist es die Versunkenheit angesichts großer Werke der Hochkultur. Struth fotografiert frontal zum Kunstwerk, das die hinterste Ebene darstellt. Davor, meist in Rückenansicht, stehen die Besucher, vertieft in das Werk.

Die Ebene der Betrachter verschmilzt mit dem Kunstwerk, besonders auffällig in dem Bild Art Institute of Chicago 2, 1990. Die Frau in dem rotkarierten Mantel scheint geradewegs in das Bild zu gehen.

Für die Bildwissenschaft ist aber noch eine weitere Ebene von Bedeutung, nämlich die des Fotografen und Rezipienten, die Ebene also vor der Fotografie.

Theatralität bzw. auch das Gegenteil, die Anti-Theatralität, wird ja bestimmt von der Kommunikation zwischen Bild und Rezipienten. Will der Maler oder Fotograf diese Kommunikation unterbinden, kann er auf die Versunkenheit zurückgreifen. Wir werden bei Andres Gursky noch ein weiteres Konzept kennenlernen Anti-Theatralität umzusetzen.

Eine dritte Serie von Thomas Struth sei noch zitiert, die Serie Audience. Auch diese Bilder sind im Museum entstanden, aber im Gegensatz zu seinen Museumsbildern werden keine Kunstwerke gezeigt, die Betrachter sind frontal aufgenommen. Auch sie betrachten ein Kunstwerk, das sich aber außerhalb des Bildrahmens befindet.

Wir wissen allerdings wo die Aufnahmen gemacht wurden und was die Betrachter da bestaunen.  Im Sommer 2004 hatte Struth den Auftrag Michelangelos David in der Galleria dell´Accademia zu fotografieren. Diesen Auftrag wird er wohl erledigt haben. Er zeigt uns allerdings nicht den David, sondern die Menschen, die ihn bestaunen. Insofern unterscheidet sich die Audience-Serie grundlegend von Struths klassischen Museumsbildern, sie verweisen auf eine Leerstelle. Mehr noch zwischen der Statue und ihren Betrachtern scheint irgendeine Kommunikation stattzufinden.

Man kann zweifelsohne davon ausgehen, dass die Besucher wissen, dass sie fotografiert werden und trotzdem nehmen bis auf wenige dies garnicht wahr.

Anti-Theatralität bei Andreas Gursky

Klausenpass 1984, so die Meinung führender Kunstkritiker, setzt im Werk von Gursky einen Meilenstein. Erst ein halbes Jahr nach der Aufnahme, stellte Gursky fest, dass auf dem Weg zur Spitze Menschen unterwegs waren, die er aber rmit dem bloßen Auge nicht gesehen hatte. So merkt Peter Galassi, ehemaliger Chefkurator für Fotografie, MoMA, New York, an: „Der Effekt ist umso verführerischer, als sich der Fotograf weitab von der Szene befindet, deren ameisenhafte Figuren folglich umso entschlossener erscheinen, als sie sich des beobachtenden Auges erfreulicherweise nicht bewusst sind.

Michael Fried ergänzt: „…dass gerade die winzigen Figuren, die sich des beobachtenden Auges nicht bewusst sind, verleihen dem Klausenpass eine anti-theatralische Ästhetik.”

An den nachfolgenden Arbeiten von Gursky kann man dieses Prinzip, das die Kunstkritiker Separation durch Entfernung nennen, immer wieder erkennen. Unterstützt wird dieses Prinzip weiterhin durch die Nutzung der elektronischen Bildverarbeitung, die Gursky extensiv einsetzt. Separation meint, die Trennung des Rezipienten von den abgebildeten Personen, wie es Jeff Wall durch die Versunkenheit erreicht.

Andreas Gursky: „Ich stehe in einer gewissen Entfernung, wie ein Mensch aus einer anderen Welt.”

Die Metapher einer anderen Welt greift Michael Fried auf und meint, dass sie letztlich eine antitheatralische Metapher sei.

Schwimmbad Ratingen 1987 ist ein weiteres Beispiel dieser Separation durch Entfernung.

Anti-Theatralität bei Thomas Ruff

Thomas Ruff hat schon sehr früh in seiner künstlerischen Laufbahn eine Serie von Porträtaufnahmen gemacht. Seine Porträtaufnahmen folgen einem bestimmten Aufbau: Die Porträtierten mussten sich auf einen Hocker setzen und wurden dann mit einem ernsten, ruhigen Gesichtsausdruck in ihrer Alltagskleidung fotografiert. Den farblichen Hintergrund konnten sie selbst wählen. Jede Form emotionaler Beteiligung wie lächeln oder grinsen wurde vermieden. Ruff veröffentlichte die Porträts zunächst relativ klein: 23,5 x 17,8 cm. Diese wurden von der Fachwelt kaum beachtet. Erst nachdem er sie auf das Format 210 x 105 cm vergrößerte, schafften sie den Durchbruch.

Thomas Ruff: „Ich glaube nicht an die psychologisierende Porträtfotografie, die meine Kollegen machen, indem sie versuchen, den Charakter mit jeder Menge Licht und Schatten einzufangen. Das ist mir absolut suspekt. Ich kann nur die Oberfläche zeigen, was darüber hinausgeht, ist mehr oder weniger Zufall.

Peter Galassi bezeichnet Ruffs Porträts deshalb auch als Ikonen der Leere.

Wolfgang Ahrens, Leichlingen, im Oktober 2018