Die Großen Kränkungen der Menschheit

Gedächtnisprotokoll des Vortrags zur Moderne von Johannes Vincent Knecht M.A. (Berlin) an der Freien Akademie der Bildenden Künste, Essen, am 13.10.2014, überarbeitet im November 2015/21.

 

Einführung

An drei Beispielen möchte ich zunächst die Veränderung unseres Menschenbildes über die Jahrhunderte zeigen: Wir betrachten den David von Michelangelo (1475 – 1564),  Alberto Giacomettis Schreitender Mann (1901 – 1966) und Georg Baselitz Greetings from Oslo (*1938)

Die großen Kränkungen der Menschheit ist ein von Sigmund Freud im Jahr 1917 geprägter Begriff für umstürzende wissenschaftliche Entdeckungen, die, so Freuds These, das Selbstverständnis der Menschen in Form einer narzisstischen Kränkung in Frage gestellt haben.

Freud nennt drei große Einschnitte, die der naive Narzissmus des menschlichen Bewusstseins durch den historischen Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis erlitten habe.

Unter Narzissmus versteht man die Selbstverliebtheit oder Selbstbewunderung eines Menschen, Was sind diese Kränkungen?

  • Die kosmologische Kränkung
  • Die biologische Kränkung
  • Die psychologische Kränkung

Weitere Autoren machen darüberhinaus eine vierte Kränkung, die Technologische, aus.

Was also, so könnte man fragen, ist mit dem Menschenbild zwischen diesen 3 Darstellungen passiert? Sigmund Freud gibt darauf eine Antwort, in dem er seine 3 großen Kränkungen der Menschheit ausmacht.

Die kosmologische Kränkung:

Die erste Erschütterung sei die mit dem Namen Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543) verknüpfte Entdeckung gewesen, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls sei (vgl. Kopernikanische Wende). Im Ergebnis wurde das geozentrische durch das heliozentrische Weltbild ersetzt. Der Mensch stand nunmehr nicht mehr im Mittelpunkt der Schöpfung. Wie wir heute wissen ist selbst unser Sonnensystem nicht der Mittelpunkt des Weltalls. Diese wissenschaftliche Erkenntnis, die sich ja, wie wir wissen, auch nicht problemlos durchsetzen konnte, hat die Menschen im Innersten, in ihrem Glauben, getroffen und die bis dahin geltende Gesellschaftsordnung im Kern erschüttert.

Die biologische Kränkung:

Die zweite Kränkung lag in der Entdeckung, dass der Mensch aus der Tierreihe hervorgegangen und keine Schöpfung Gottes sei (Charles Darwin (1809 – 1882): “Entstehung der Arten”, 1859)). Überspitzt könnte man also sagen, der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung, sondern stammt rein zufällig vom Affen ab. Die Fortsetzung dieser Erkenntnis bis in die heutigen Tage, die Entschlüsselung des Genoms, befähigt nun den Menschen selbst Schöpfer zu sein.

Die psychologische Kränkung:

Die dritte Kränkung sei die von Freud selbst entwickelte Libidotheorie des Unbewussten; ein beträchtlicher Teil des Seelenlebens entziehe sich der Kenntnis und der Herrschaft des bewussten Willens. Die Psychoanalyse konfrontiere das Bewusstsein mit der peinlichen Einsicht, (…) dass das Ich nicht Herr sei im eigenen Haus. Unbewusste Handlungen, Traumwelten, Triebe, insbesondere der Sexualtrieb, Obsessionen und Wünsche bestimmen also unsere Handlungen, angefangen von Neurosen, Zwangsvorstellungen und – handlungen bis hin zum Fanatismus, ja auch des religiös bestimmten Terrors. Wir alle sind in letzter Konsequenz keine vernunftgesteuerten Wesen, was der islamische Terror fast täglich beweist.

Freud stellt seine Lehre des Unbewussten damit in einen Kontext mit den wissenschaftsgeschichtlich umwälzenden Theorien Kopernikus’ und Darwins. Die Psychoanalyse stehe in der Tradition der deutschen Philosophie, insbesondere der Metaphysik Schopenhauers (1788 – 1860), dessen Lehre vom unbewussten Willen die Psychoanalyse theoretisch vorbereitet habe.

Die Technologische Kränkung:

Mehrere Autoren postulieren heute eine vierte große Kränkung der Menschheit:

Der Philosoph Johannes Rohbeck sprach 1993 von der technologischen Kränkung, dass die Menschheit von selbstgeschaffenen Machwerken beherrscht werde, und verglich die Lage des Menschen mit der von Goethes Zauberlehrling.

Barbara Guwak und Matthias Strolz sehen die vierte Kränkung darin, dass sich die von Menschen geschaffene Welt nicht mehr beherrschen lässt (Erderwärmung, Atomenergie, Finanzkrise, Terror sei es der rechte, der linke oder der islamistische Terror), Pandemien wie Ebola, Corona etc.).

Der Medienjournalist Sascha Lobo sprach in einem Beitrag zum FAZ-Feuilleton von der Kenntnisnahme der durch Edward Snowden aufgedeckten Netzüberwachung als der vierten, digitalen Kränkung der Menschheit, da das Internet nicht das erhoffte Instrument der Freiheit darstelle, sondern für das Gegenteil benutzt werde. Hierzu können auch all die abartigen Nutzungen des Internets gezählt werden wie Fake-News, Hate-Speeches etc..

In einer Replik äußerte der Journalist Sascha Kösch, die vierte Kränkung sei allgemeiner, da die Menschheit die von ihr geschaffenen Technologien nicht beherrschen könne, was sich bereits anhand der Erfindung der Atomwaffen erkennen lasse.

Reiner Klingholz sieht die vierte Kränkung der Menschheit darin, „dass wir, ungeachtet aller technischen Möglichkeiten, die Natur nicht in einem Zustand erhalten können, der uns gewogen wäre“, und dass ein unfreiwilliger Übergang zu einer Postwachstumsgesellschaft ohne Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum stattfinden werde.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die zunehmende Digitalisierung und Automatisierung bis hin zur Künstlichen Intelligenz, die Flüchtlingskrise, die Energiewende, die Mobilitätskrise, die Virus-Pandemien die Menschheit ein weiteres Mal durchschütteln werden. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine schüttelt unsere westliche Sicherheitsarchitektur durcheinander. Das Versagen der Eliten (Dieselskandal, PKW-Mautdebakel, Landtagswahl in Thüringen, Management der Corona-Krise usw.), führt zu einer Verunsicherung der Menschen und eine Hinwendung zu den Rückwärtsgewandten, den Heilsversprechern, den Querdenkern, als ob wir das nicht schon alles gehabt hätten.

Wolfgang Ahrens, 2014/15/21/23