Rezension zu dem Bildband „Dinge. Alltagsgegenstände in der Fotografie der Gegenwartskunst.“

 

Christina Pack. Erschienen im Geb. Mann Verlag Berlin 2008. humboldt-schriften zur kunst- und bildgeschichte.

 

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Die Arbeit von Christina Pack basiert auf ihrer Dissertation, die sie im März 2006 am Kunstgeschichtlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht hatte.

Sie schreibt schon einleitend: „Dinge. Zum Beispiel Stuhl, Bett oder Tisch. Diese alltäglichen Gegenstände sind elementare Bestandteile des Lebens mit Grundbedürfnissen wie Essen oder Schlafen verbunden. Auch Hose, Rock oder T-Shirt sind Gegenstände, die uns täglich umgeben, sogar direkt auf der Haut aufliegen. Ist es da verwunderlich, dass diese Dinge auch losgelöst vom Menschen etwas über ihn aussagen?”

und weiter:

„Der künstlerischen Annäherung an reale Gebrauchsgegenstände entspricht eine Fülle an fotografischen Ding-Bildern, die sich von den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart erstreckt. Selbst im digitalen Zeitalter, das als „Agonie des Realen“ etikettiert wurde, scheint das Interesse am Motiv alltäglicher Gegenstände nicht abzunehmen. Was die künstlerische Fotografie der Gegenwart betrifft, so lässt sich weder das vielerorts angekündigte „Verschwinden der Dinge“ noch ein „Verschwinden der Fotografie“ feststellen.”

Christina Pack hat ihr Buch in vier Hauptkapitel untergliedert. Farbtafeln und die üblichen Verzeichnisse runden es ab.

Die Hauptkapitel sind:

  1. Zeit – Das Gedächtnis der Dinge
  2. Körper – Die Physiognomie der Dinge
  3. Räume – Die Umgebung der Dinge
  4. Aktionen – das Eigenleben der Dinge

Zeit – Das Gedächtnis der Dinge

Im ersten Kapitel geht Christina Pack auf den Begriff der Spur ein. Nachdem über Jahrzehnte die Eigenständigkeit der Dinge fotografisch herausgearbeitet wurden, zeigt sich in vielen zeitgenössischen Arbeiten die Abwesenheit der Menschen. Weil die Darstellbarkeit des Menschen in Frage gestellt wird, übernehmen die Dinge eine Stellvertreterfunktion, werden über einen Umweg zum indirekten Porträt oder bringen den Zweifel an einem solchen Bild zu Ausdruck.

Was auf jeden Fall bleibt, sind die Spuren der Menschen, die sie mehr oder weniger freiwillig hinterlassen. Gebrauchsspuren an Dingen sind aber immer auch Spuren der Zeit und damit stellen sie quasi das Gedächtnis der Dinge dar.

Zur Konkretisierung der etwas abstrakten Aussagen, zeigt Christina Pack das Beispiel von Arbeiten eines Eugène Atget, der um die Jahrhundertwende eine beinahe enzyklopädische Dokumentation der Stadt Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts schuf. Damals wurde in einem großen Erneuerungsprozess die engen Straßenzüge mit niederen Häusern abgerissen und durch große Boulevards ersetzt. Man kann hier einen direkten Vergleich zu Bernd und Hilla Becher ziehen, die die untergehende Industriekultur dokumentierten.

Eugène Atget zeigt in diversen Alben wie z. B. die Serie Intérieurs parisiens das alltägliche Wohnumfeld der Arbeiterklasse oder des Mittelstandes, aber auch mit Dingen überfrachtete Wohnräume der Bourgeoisie.

Aber was genau ist eine Spur?

Christina Pack: „Der Ausdruck „Spur“ bezeichnet ein Phänomen, das sich nur in Form von Gegensatzpaaren denken lässt. Eine Spur ist sichtbar, verweist aber gleichzeitig auf ihre Ursache, die unsichtbar, abwesend ist. Sie ist gegenwärtig, deutet jedoch auf etwas Vergangenes hin, das sie hervorgerufen hat. Sie ist statisch und gleichzeitig das Endprodukt einer Bewegung. Darüber hinaus ist eine Spur immer unbelebt und lässt sich dennoch häufig auf den Kontakt mit einem (lebendigen) Körper zurückführen.

Interessant nun ihr direkte Verbindung von der Spur zur Fotografie.

Eine Fotografie verbildlicht dasselbe Paradox wie die Spur, die „überzeugende Anwesenheit des Objekts in seiner unabwendbaren Abwesenheit.

In weiteren Betrachtungen von Werken großer Fotografen geht sie dann auf verschiedene Aspekte der Dinge ein: Dinge als Gemeingut (Christian Boltanski), Dinge als Gemeinplatz (Hans-Peter Feldmann), Dinge als System (Sol LeWitt)

Körper – Die Physiognomie der Dinge

Auch in diesem Kapitel zeigt sie in eindrucksvollen Bildern Beispiele zeitgenössischer Ding-Fotografie. Detailiert geht sie auf die Serie L´hotel von Sophie Calle aus den Jahren 1981/98 ein.

Hintergrund der Arbeiten von Sophie Calle ist eine dreiwöchige Tätigkeit der Künstlerin als Zimmermädchen in einem venezianischen Hotel.

Sophie Calle fotografierte in den Zimmern der Gäste. Zweifellos dringt sie damit in einen sehr intimen Bereich der Gäste vor, was man auch als eine Grenzverletzung bezeichnen kann. Die Arbeiten sind immer gleich komponiert: Eine Frontalansicht zeigt das gemachte Bett, weitere neun Bilder zeigen Dinge des Zimmers, wie sie vom Gast hinterlassen wurden.

Ein längerer Text zählt akribisch die Dinge auf, die die Künstlerin vorgefunden hat. Text und Bilder stellen somit eine Einheit dar. Durch die symmetrische Ausrichtung der Fotografien werden die Gegenstände wie selbstverständlich in einer bildlichen Ordnung präsentiert.

Spurensuche von Sophie Calle finden in einem Hotel statt, das zum Tatort mutiert. Die Tatort-Ästhetik wird zu einem bestimmenden Element in ihrer Hotel-Serie. Die Verbindung  von Bild und Text rücken die Bilder in ein anderes Licht. Die Sprache dient dazu, die Dinge als Spuren zu konstruieren, die auf Menschliches verweisen, andererseits als konkrete Indizien verstanden werden können.

In einem weiteren Kapitel widmet sich Sophie Calle den Oberflächen von Dingen an Bildern von Wolfgang Tillmans. Seine Serie Faltenwurf (1991) zeigt herumliegende oder zum Trocknen aufgehängten, von vorgefundenen oder drapierten Kleidungsstücken. Die Bilder ähneln sich: Sie sind isoliert von ihrer Umgebung, sind meist von oben aufgenommen und wirken deshalb fast wie abstrakte Farblandschaften. Der Bezug zur kunstgeschichtlichen Bedeutung ist nicht zu übersehen.

Räume – Die Umgebung der Dinge

In ihrem dritten Hauptkapitel tritt an die Stelle einzelner Gegenstände die Beziehung zwischen den Dingen und ihrer Umgebung. Sie stellt die konzeptionellen Ansätze von Candida Höfer den Arbeiten von Thomas Demand gegenüber.

Christina Pack arbeitet am Beispiel der Arbeiten Candida Höfers den Begriff der „Bühne“ heraus. Indem die Künstlerin die Orte täglicher Fluktuation im Zustand der Leere festhält, lenkt sie den Blick auf das im alltäglichen Gebrauch übersehene eigentliche „Personal“ dieser Räume – die Gegenstände. Dienen sie im Alltagsgebrauch dem Menschen, so gewinnen sie in den Bildern Candida Höfers eine ästhetische Eigenständigkeit.

Mit Bühnen ist ein Vorgang der Wahrnehmung adressiert, da die Dinge aus der Distanz betrachtet und als vom Alltag getrennt erlebt werden.

Thomas Demand hat gegenüber den Arbeiten von Candida Höfer eine völlig andere Herangehensweise. Demand baut seine Räume dreidimensional und lebensgroß aus Papier auf, die er abfotografiert und dann vernichtet. Er benutzt allerdings fotografische Vorlagen aus dem Bildreservoir der Massenmedien. Die spurenlosen, menschenleere Räume sind aufgeladen mit einer Geschichte. Demands Fotografie Badezimmer zeigt beispielsweise die aus Papier imitierte Badewanne, in welcher der damalige Ministerpräsident Schleswig-Hlsteines Uwe Barschel 1987 tot aufgefunden wurde. Nicht ohne Grund bezeichnet er seine Bilder auch als Tatorte. Sie sind in gewisser Weise „Hybridbilder“ zwischen Skulptur und Fotografie angesiedelt.

Aktionen – Das Eigenleben der Dinge

Im vierten Kapitel stellt Christina Pack zwei Schweizer Fotografen Peter Fischli und David Weiss vor, deren Arbeiten zwischen Fotografie und Skulptur und Anna und Bernhard Blume, deren Arbeiten zwischen Fotografie, Performance, Malerei und Film angesiedelt sind.

Stiller Nachmittag ist eine zweite Fotoserie der beiden Künstler Peter Fischli und David Weiss, die seit 1979 zusammenarbeiten. Sie verwenden unübliche Materialien wie Wurstscheiben, Zigarettenstummel und Cornichons.

Eine interessante Arbeit sind die Gleichgewichte (Equilibres). Diese sind Skulpturen auf Zeit. Allein das Foto hält diese flüchtigen Gebilde dauerhaft fest und wird als das eigentliche Kunstwerk verstanden. Verschiedene Gegenstände sind im Zustand eines vorübergehenden Gleichgewichts festgehalten und stehen für das klassische Symbol der Waage. Die Balkenwaage als Metapher wird aber von Fischli und Weiss parodiert, da die Funktion der Waage zwei Lasten symmetrisch zu verteilen nicht mehr funktioniert.

Während Fischli und Weiss die Schwerkraft der Dinge für kurze Zeit überlisten, entstehen die Großfotoserien von Anna und Bernhard Blume, in denen Haushaltsgegenstände und Möbel völlig ihre Bodenhaftung verlieren.

Die 1990 entstandenen Arbeit Vasen-Extasen besteht aus 28 S/W-Fotografien im Format 200 x 127 cm. Im Vergleich zu Fischli und Weiss setzen auch sie sich mit demselben Thema auseinander, der Inszenierung gegenständlicher Aktionen und der Fotografie als Darstellungsmedium.

Zusammenfassung

Der Bildband von Christina Pack ist mit 83 S/W-Abbildungen und 21 Farbtafeln bestückt. Ein umfassendes Literaturverzeichnis lässt die umfangreiche Arbeit erahnen.

Insgesamt kann man sagen: Die Arbeit beschreibt in mehreren Facetten, wie Alltagsgegenstände in der Fotografie der Gegenwartskunst gesehen werden. Die beispielhaft ausgewählten Arbeiten der Künstler stehen für diese Gegenwartskunst.

Das Buch ist anspruchsvoll aber für jeden Fotokünstler ein Muss.

Wolfgang Ahrens, Juli 2017

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