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Teil 1: Abstraktion bei Andreas Gursky

Die vorliegende Arbeit wurde 2009 unter dem Titel Abstraktion bei Andreas Gursky vom Fachbereich Germanistik und Kunst-wissenschaften der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen.

Das Wort Abstraktion (lateinisch abstractus ‚abgezogen‘) bezeichnet meist den induktiven Denkprozess des Weglassens von Einzelheiten und des Überführens auf etwas Allgemeineres oder Einfacheres. Daneben gibt es spezifische Verwendungen des Begriffes in bestimmten Einzelwissenschaften und einzelnen Theorien.

In der Bildenden Kunst bezeichnet Abstraktion einerseits die mehr oder weniger ausgeprägte stilistische Reduzierung der dargestellten Dinge auf wesentliche oder bestimmte Aspekte. In diesem Fall spricht man davon, dass vom Allgemeinen auf das Wesentliche abstrahiert wird. Was als wesentlich gilt, bestimmt einerseits die Kreativität des Künstlers, andererseits die Wahrnehmung des Betrachters. Durch Abstraktion können Veränderungen zum Beispiel in Perspektive, Farbgebung, Struktur oder Stil entstehen.

Was aber heißt Abstraktion im Werk von Andreas Gursky?

Diese Frage zu beantworten hat sich die Autorin immerhin 374 Seiten Raum gelassen. Hinzu kommt, dass viele Künstler ihre völlig unterschiedlichen Schaffensphasen haben – so auch Gursky – und es deshalb schwierig ist, einen noch lebenden Künstler abschließend zu beurteilen.

Wichtig scheint mir, dass Gursky selbst wie sein Atelier durch Bereitstellung von Literatur und Bildmaterial die Arbeit unterstützt haben.

Die Autorin geht – wie es gutes wissenschaftliches Arbeiten erfordert – zunächst von dem Abstraktionsbegriff aus wie er in der Foto-grafiegeschichte  bis hin zur Fotografiedebatte der Gegenwart reicht. So fordert sie, dass zunächst geklärt werden muss, welche Definition von „Abstraktion“ geltend gemacht werden muss.

In der Bildenden Kunst  – wie Kurt Fassmann in seinem Sach-wörterbuch der Weltmalerei erläutert – kann unter Abstraktion zweierlei verstanden werden: Die Abstraktion als Darstellung von Farb- und Formkompositionen, die den Gegenstand gänzlich ausschließen und in einem weniger strengen Sinn als den Vorgang des Abstrahierens, der den Gegenstand nicht völlig eliminiert, sondern von ihm ausgeht und sich auf ihn bezieht. Das Farb- und Formprinzip überlagere in diesem Fall die Gegenständlichkeit. So schreibt auch Marcel Brion:

Wir müssen deshalb jedes Mal, wenn von abstrakter Kunst die Rede ist, unterscheiden, ob es sich um reine abstrakte Kunst handelt oder um eine abstrahierende Kunst, welche die Gegenstandsform aus Gründen einer psychologischen oder bildnerischen Ordnung stilisiert und schematisiert.

Es schließt sich nun die Frage nach der Abstraktion in der Fotografie an. Schon zu Beginn der Fotografie wurde sie als Analogon der Wirklichkeit betrachtet, ihre Abbildungsfunktion eben. Das fotografische Abbild wurde mit Realität und Wahrheit gleichgesetzt.

Dem hält Hans-Dieter Dörfler in seiner Arbeit Das fotografische Zeichen 2000 entgegen: „Eine Fotografie wird keineswegs als Analogon der Wirklichkeit betrachtet. Stattdessen […] wird Fotografie als komplexes kulturelles System betrachtet.”

Aus dieser Definition lässt sich ableiten, dass jedes fotografische Bild bereits eine Abstrahierung der Wirklichkeit darstellt.

Der Unterschied zwischen einem abstrakten und einem abstrahierenden Bild erklärt sie wie folgt: „Unter Abstraktion wird die absolute Abstraktion verstanden, die keinen gegenständlichen Bezug aufweist. Steht das Abbild der Fotografie in einem noch erkennbaren Analogieverhältnis zum Gegenstand, so ist von Abstrahierung zu sprechen.”

Neben den Begriffen Abstraktion bzw. Abstrahierung führt die Autorin die Begriffe des Ornaments und des Ornamentalen ein und definiert dazu:

Der wesentliche Unterschied zwischen Ornament und dem Ornamentalen liegt in der Divergenz von Rapport bzw. Symmetrie und Gestalt in überfigürlicher Funktion sowie im Unterschied zwischen Rapport und ordnenden Formkompositionen. Während das Ornament von einer sich wiederholenden Struktur, also von Unendlichkeit gekennzeichnet ist, bauen sich die Elemente im Ornamentalen zu einer vereinheitlichten bewegten Form auf, oder die Elemente werden in konkrete Formen zusammengefasst, zu denen es keine fortlaufende Entsprechung gibt.

[…] Von einem Ornament soll dann die Rede sein, wenn sich im fotografischen Bild Gesetzmäßigkeiten wie Symmetrie, Rapport, Rhythmus und Addition nachweisen lassen.

Wolfgang Ahrens, im Februar 2019. wird fortgesetzt

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